
London im Jahr 1923. Seit fünfzig Jahren hält der Frieden zwischen Menschen und Drachen, doch er wird zunehmend brüchig – auch, weil immer mehr Menschen gegen das strenge Klassensystem protestieren, das die Grundlage für den Friedensvertrag ist. Vivien Featherswallow ist fest entschlossen, sich haargenau an die Regeln zu halten, um an der Akademie für Drachensprache aufgenommen zu werden und damit sicherzustellen, dass ihre kleine Schwester Ursa niemals in die unterste Klasse abrutscht. Doch dann werden ihre Eltern verhaftet und Vivs Welt bricht zusammen. Verzweifelt nimmt sie einen mysteriösen Job an: In Bletchley Park soll sie die Sprache der Drachen entschlüsseln. Das Leben ihrer Familie hängt davon ab – doch je mehr Viv über die Drachensprache lernt, desto klarer wird ihr, dass alles, was sie zu wissen glaubte, eine Lüge ist …

Spannendes historisches Dark-Academia-Abenteuer
S. F. Williamsons Roman Die Sprache der Drachen entführt uns ins London des Jahres 1923, wo seit fünfzig Jahren ein fragiler Frieden zwischen Menschen und Drachen herrscht. Das zentrale Worldbuilding ist dicht, tiefgründig und von einem strikten Dreiklassensystem geprägt. Dieses System wirkt fast dystopisch. Eine politische Struktur, die stark an autoritäre Regime erinnert. Vivien Featherswallow, unsere junge Protagonistin, ist fest entschlossen, sich an alle Regeln zu halten. Aus Angst, ihre Schwester Ursa könnte in die unterste Klasse fallen. Ihr Traum: ein Studium an der Akademie für Drachensprache, damit sie nie zu denen gehört, die öffentlich hauptsächlich als Übersetzer fungieren – ein gefährlicher und elitärer Beruf.
Vivien: Ehrgeizig, naiv und (manchmal) anstrengend
Vivien ist als Protagonistin wirklich sehr naiv und tatsächlich kann diese Naivität mitunter etwas anstrengend sein. Sie folgt den Regeln ohne diese zu hinterfragen. Setzt ihre ganze Hoffnung in ein etabliertes System und erkennt nur langsam, wie tief Korruption und Lügen reichen. Ich habe häufig die Augen verdreht und mich über sie geärgert. Ihre Entwicklung ist allerdings nicht linear oder abrupt. Sondern bedächtig, realistisch und nachvollziehbar. Auch wenn es wirklich sehr lange dauert. Stellt euch auf 400 Seiten Frust mit ihr ein.
Vivien startet als vorsichtige Karrieristin, deren größte Motivation die Familienehre ist. Als ihre Eltern wegen Hochverrats verhaftet werden, gerät ihre Welt ins Wanken. Ausgerechnet jetzt erhält sie ein Angebot aus Bletchley Park. Ein geheimer Stützpunkt der Regierung. Ihr Auftrag: die mysteriöse Sprache der Drachen entschlüsseln, in deren Beherrschung ein Schlüssel für Frieden oder Krieg liegen könnte.
Magische Sprachmystik, clevere Intrigen und eindrucksvolle Charaktere
Ein großer Pluspunkt der Geschichte ist die Sprache selbst – oder genauer: der Umgang der Autorin mit Sprache. Williamson, selbst Übersetzerin, verwebt das zentrale Motiv der Sprache kunstvoll in Handlung, Magie und Politik. Die Drachen verfügen über eine eigene Kultur und sprechen mehr als nur ein magisches Kauderwelsch. Ihre Sprache ist komplex, facettenreich, geheimnisvoll. Die Übersetzung wird zur Schlüsseltechnologie und zur Waffe.

Politische Intrigen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Handlung. Aufstände gegen das Klassensystem brauen sich zusammen, und immer wieder wird die Frage spürbar: Ist Frieden um jeden Preis gerechtfertigt – oder zementieren wir damit Ungleichheit und Unterdrückung? Diese moralische Dilemma-Ebene verleiht dem Roman Tiefe. Der Spannungsbogen ist konstant gespannt, von der ersten Seite bis zum fulminanten, aber nicht abrupten Showdown.
Nicht zuletzt glänzt Williamson mit einem facettenreichen Charakterensemble. Neben Vivien begegnen wir jungen Rekruten, Drachen und Wissenschaftlern, deren Loyalitäten erst gebracht und dann gebrochen werden. Jeder trägt zur Atmosphäre bei – die Drachen selbst sind weit mehr als Monster: eigenständige Persönlichkeiten mit Kultur, eigener Sprache und teils überraschender Empathie.
Was besonders gut gelungen ist
- Die Dunkelheit („Dark Academia“-Vibes) der Figuren, eingebettet in den historischen Londoner Hintergrund, verleiht dem Setting eine lebendige, fast atmosphärische Präsenz.
- Die steigende Spannung durch politische Dissonanzen, geheime Militärprojekte und Drachen-Entschlüsselung.
- Die langsame, glaubwürdige Entwicklung Viviens: von naiv über nachdenklich zu mutig – auch wenn das nicht immer angenehm zu lesen ist.
- Die Drachen sind klug, eigenständig und kulturell tief. Sie sind mehr als Magie – sie sind Ko-Akteure mit Einfluss auf den Verlauf der Handlung.
- Ein leiser “slow-burn”-Romance-Strang, der die Handlung bereichert, aber nie dominiert.
Kleine Kritikpunkte
- Die Naivität Viviens kann stellenweise etwas zäh werden – man wünscht sich, sie würde schneller lernen.
- Bei manchen Nebenfiguren wirkt deren Wandel (z. B. ihre Haltung zu Drachen oder Politik) etwas knapp erzählt, weniger organisch als bei Vivien.
- Trotz aller Komplexität bleibt das Buch im Grunde ein Jugendroman – die Dichte und die politischen Themen wirken manchmal etwas jugendlich, was jedoch zur Zielgruppe passt.

Fazit – für wen sich das Buch lohnt (und warum)
Die Sprache der Drachen ist spannend, atmosphärisch dicht und ideenreich – ein gelungener Mix aus historischer Fantasy, Sprachmystik und politischer Dystopie. Williamson punktet mit einem konsequent durchdachten Worldbuilding, klugen Wendungen und einem bemerkenswert langsamen, aber befriedigenden Charakterwachstum.
Trotz gelegentlicher Ungeduld mit Viviens Naivität ist ihre emotionale Reise nachvollziehbar und menschlich. Sie spiegelt den mühsamen Prozess wider, gesellschaftliche und ideologische Strukturen zu hinterfragen. Für Fans von Drachen, Sprachen und historischen Settings ist dieses Buch ein Schatz. Die slow-burn-Romanze bleibt im Schatten der Haupthandlung – wer hier mehr erwartet, wird vielleicht enttäuscht – aber das hält den Fokus klar auf Abenteuer und Geheimnisse.
Insgesamt: hochgradig lesenswert für junge erwachsene Leser*innen und Erwachsene, die sich auf eine düstere, intelligente Fantasy-Reise einlassen möchten.