
Cabernet spielt in einer faszinierenden, düsteren Welt, die stark von einer östlich-europäischen Ästhetik inspiriert ist. In dieser gotischen Kulisse steuert man Liza, eine junge Vampirin, die mit ihrem neuen „Unleben“ ringen muss. Die Mischung aus historischem Flair und modernen Elementen verleiht dem Spiel einen spürbaren Kontrast: Altes Gemäuer und Laternenlicht treffen auf subtile Details, die in die Gegenwart zielen.
Die Narration ist das Herzstück des Spiels: Entscheidungen, Dialoge und Begegnungen bestimmen, ob Liza ihre Menschlichkeit bewahrt oder sich in die Finsternis begibt. Viele Szenen sind emotional dicht, thematisch mutig. Es geht um Schuld, Ambivalenz und die Frage, wie viel Opfer ein „neues Leben“ fordert. Die Erzählstruktur erlaubt verzweigte Wege, Mehrfachendungen und kleine Geheimnisse, die belohnen, wenn man genau hinschaut und erforscht.
Stimmungsgemäß gelingt Cabernet oft das, woran viele narrative RPGs scheitern. Es erzeugt eine dichte Begleitstimmung, in der man mit jedem Schritt das Gewicht seiner Entscheidungen spürt. Die Zwischensequenzen und Art-Assets sind handgezeichnet und visuell ansprechend, mit sparsamen, doch effektiven Animationen, die das Ganze nicht überfrachten, sondern akzentuieren.

Gameplay, Mechaniken und Entscheidungen
Am Spielkern steht das Erkunden von Szenen (meist nachts) kombiniert mit Interaktion, Dialogen und gelegentlichen strategischen Elementen. Liza kann verschiedene vampirische Fähigkeiten einsetzen. Etwa unsichtbar zu wandeln, Beute mit einem verführerischen Ton anzulocken oder aus der Luft zu gleiten. Diese Kräfte sind nicht rein optisch, sondern bieten taktische Optionen – beispielsweise, wie man eine Konfrontation vermeidet oder manipuliert.
Ein wesentliches Element ist das Ressourcenmanagement in Bezug auf Nahrung (Menschen) und Beziehungen. Man spürt permanent den Konflikt: Soll man jemanden erpressen, retten, ignorieren oder benutzen? Jede Handlung kann Konsequenzen nach sich ziehen. Manche sofort, andere mit zeitlicher Verzögerung. Das macht das Spiel dynamisch und unvorhersehbar. Zwar gibt es keine klassischen Kämpfe im Sinne eines Actionbattles, doch das Ringen mit Macht und Moral ersetzt das durchaus überzeugend.
Die Dialoge sind gut geschrieben, mit oft mehrdeutigen Antworten und emotionaler Tragweite. Die Entscheidungen fühlen sich selten „beliebig“ an. Viele Optionen bleiben einem bewusst präsent, auch jene, die man nicht gewählt hat. Das Thema der Verführung (im metaphorischen wie im übertragenen Sinn) taucht regelmäßig auf, vor allem in Interaktionen mit NPCs. Neben solchen Momenten gibt es ruhigere Phasen, in denen man Informationen bündelt, Hinweise zusammensetzt oder einfach durch die Stadt wandelt und beobachtet.
Technisch läuft das Spiel solide: Die Anforderungen sind moderat, Ladezeiten kaum störend, und die Oberfläche (Menüs, Textboxen, Maussteuerung) fühlt sich angenehm flott an. Auch die deutsche Übersetzung ist sauber gemacht, ohne größere Unstimmigkeiten oder Brüche im sprachlichen Stil.

Stärken, Schwächen und mein Fazit
Stärken
- Die Erzähltiefe von Cabernet ist herausragend: Charaktere und Konflikte fühlen sich bedeutsam.
- Die Entscheidungsfreiheit verleiht dem Spiel hohen Wiederspielwert — viele Wege scheinen möglich, und man will neugierig sein, was man verpassen könnte.
- Die Atmosphäre: visuell, musikalisch und strukturell wirkt alles stimmig arrangiert.
- Technisch solide Umsetzung, gute Übersetzung, allgemein sauberes Package.
- Die Verbindung aus Moral, Politik, Intrigen und persönlichen Motiven macht das Spiel anspruchsvoller als viele typische Vampire-Spiele.
Schwächen
- Manche Entscheidungen erscheinen im Nachhinein als relativ offensichtlich, wenn man bereits weiß, worauf sie hinauslaufen. Für Erstspieler kann der Entscheidungsdruck bisweilen frustrierend sein.
- Der Mangel an actionorientierten Momenten: Wer schnelle Auseinandersetzungen oder Kämpfe sucht, wird enttäuscht sein.
- Das Tempo: In einigen Phasen wirkt Cabernet etwas langsam, wenn man viel lesen oder abwägen muss. Wer mehr „Flow“ erwartet, könnte gelegentlich gezähmt werden.
- Die narrativen Sprünge zwischen Szenen sind teils abrupt – kleine Erklärlücken, die Aufmerksamkeit fordern.

Mein Fazit
Cabernet ist kein Spiel für die schnelle Unterhaltung oder die oberflächliche Vampirfantasie. Es richtet sich an jene, die sich für psychologische Spannung, moralische Abwägungen und komplexe Charakterbeziehungen interessieren. In dieser Hinsicht liefert es mehr als viele Genrevertreter: Es fordert, es reizt, es verblüfft und hält seine Eleganz trotz düsterem Grundton.
Für Fans von interaktiver Erzählung, Rollenspiel mit Gewicht und immersivem Setting ist Cabernet fast schon Pflichtlektüre. Wer jedoch Action und schnellen Nervenkitzel sucht, findet hier nur gelegentlich Auflockerung.
Meine abschließende Bewertung. Mit all seinen Stärken überstrahlt Cabernet seine Schwächen. Ein modernes Narrativjuwel mit Blut, Zwielicht und Entscheidungen, die man so schnell nicht vergisst.